Dezember 2021

#1 Wem gehört deine Zeit?

Bist du auch gerade im Trubel vor den Festtagen? Firmenfeier hier, Adventstreffen da, Geschenke besorgen, den Jahresabschluss vorbereiten oder Überstunden leisten.
Kaum oder gar keine Zeit zu haben, ist gewissermaßen unser Normalzustand, leider auch außerhalb des Dezembers. Erwerbsarbeit, Care-Arbeit, Haushalt oder soziale Beziehungen beanspruchen uns so sehr, dass alles im Leben getaktet und geplant werden will. Planer, Digitale Tools und Coaches möchten uns sogar dabei unterstützen, unsere eigene Zeit richtig zu managen, sie endlich mal in den Griff zu bekommen.

 Aber wie kommt unsere Zeitkultur eigentlich zustande?
Und: Wenn sich alle beklagen - möchten wir dann überhaupt so leben?

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(Frei) Zeit als Ressource

Unsere Zeitkultur ist insbesondere von unserer wachstumsorientierten Wirtschaftsordnung und damit auch von unserer Art des Arbeitens geprägt: Denn permanentes Wachstum erfordert ständige Produktivität. So entstand auch unser Konzept der Freizeit erst während der europäischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, als sich die Arbeitswelt immer mehr an Produktivität und Effizienz orientierte. Mit der Veränderung von Wirtschaft und Arbeit wandelte sich auch das Verständnis von Zeit für die Menschen: Sie wurde zu einer Ressource, die gegen Geld eingetauscht wird, knapp ist und gewerkschaftlich erkämpft werden muss.

Ist busy sein wirklich cool?

Heute ist Zeitmangel in manchen Kreisen sogar en vogue. Die Kultur der langen Arbeitstage hat hier vor allem identitätsbildenden Charakter: Wer am längsten im Büro ist, meint es wirklich ernst, ist diszipliniert, will etwas erreichen, ist wichtig. So lautet nach wie vor die weitverbreitete Formel, um am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft ernst genommen zu werden. Allerdings gilt diese Skala nicht für alle Berufsgruppen: Eine Reinigungskraft, die zwei oder drei Jobs nachgeht, ist gesellschaftlich wohl kaum als busy aus der Kategorie cool anerkannt.­

Und was bleibt eigentlich von unserer Persönlichkeit, wenn die Arbeit keine Rolle für die eigene Identität spielt? Hast du schonmal jemanden gefragt “Und was machst du so?” ohne, dabei auf den Beruf der Person anzuspielen?

Unsere Zeit gehört uns nicht

Die wenigsten von uns verfügen souverän über ihre eigene Zeit, schreibt die Autorin und Journalistin Teresa Bücker in ihrem Buch “Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit.”
Bereits die Tatsache, dass viele Menschen einer sogenannten Vollzeitbeschäftigung nachgehen, ist in der Regel keine freiwillige Entscheidung. Es ist zumeist wirtschaftliche Notwendigkeit, um den Lebensunterhalt finanzieren zu können, eine Familie zu ernähren und in der Rente nicht in der Altersarmut zu landen. Das bedeutet folglich jedoch auch, dass wir nicht frei und selbstbestimmt über unsere Zeit verfügen können.

Zeit ist ungerecht verteilt

Insbesondere Frauen, die Care-Arbeit leisten, sind in der aktuellen Zeitkultur benachteiligt. “Frauen übernehmen global betrachtet, drei Viertel der unbezahlten Care-Arbeit.”, schreibt Bücker. Der durchschnittliche Arbeitstag einer Frau, der sich aus bezahlter und unbezahlter Arbeit zusammensetzt, ist also deutlich länger und intensiver als für Männer. In der Wissenschaft wird hier vom sogenannten Gender-Care-Gap gesprochen.

­💡 Care-Arbeit bezeichnet unbezahlte Fürsorge-Arbeit, zum Beispiel für Familienmitglieder oder Kinder.

Zeit ist allerdings nicht nur zwischen den Geschlechtern ungerecht verteilt: insbesondere gesellschaftlich diskriminierte Gruppen wie People of Colour (PoC) sind in der Bestimmung über ihre Zeit besonders benachteiligt, da sie häufig erschwerten Zugang zu sozioökomomischen Ressourcen, wie zum Beispiel Bildung oder Erwerbsarbeit erfahren.

 

Auch jüngere Personengruppen wie Schüler:innen oder Studierende beklagen häufig Zeitmangel, Stress und dadurch entstehende psychische Belastungen. Denn zur freien Gestaltung von Zeit gehört auch, sich um die eigene psychische Gesundheit kümmern zu können oder soziale Kontakte zu pflegen.

Und jetzt? Wie gelingt eine gute Gesellschaft? 

Einzelne Lösungsstrategien, um sich mehr Zeit zu verschaffen, sind natürlich verständlich. Zeitgerechtigkeit sollte jedoch vielmehr ein Anliegen der Politik sein, sagt Teresa Bücker. Denn die Ungleichverteilung von Zeit ist auch ein demokratisches Problem: Zeitknappheit hindert Menschen daran, sich politisch zu engagieren oder sich in die Gemeinschaft einzubringen.

 

Wir brauchen also einerseits eine neue Kultur der Gemeinschaftlichkeit, in der wir gemeinsame Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen entwickeln. Vor allem aber benötigen wir eine Politik, welche die Rahmenbedingungen für eine gerechte Zeitverteilung bereitstellt, zum Beispiel durch neue Arbeitszeitmodelle oder die Vergütung von Care-Arbeit.


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